HEBBEL-AM-UFER HAU

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Theaterkombinat der anderen Art (von Friedhelm Teicke):
Im Parkett tummelt sich eine Meute Kampfhunde. Das Publikum dagegen steht auf der Bühne. Die Pit-Bull-Familie ist vorgeblich angetreten, ihnen was vorzusingen. Ein andermal lädt der Intendant zur "Bartleby-Belagerung" und zum Übernachten ins Theater ein, dann wieder verlassen die Theatermacher die Bühne und spielen in Berliner Privatwohnungen. Wir sehen, im Hebbel am Ufer ist manches anders als gewohnt.
Der Intendant heißt Matthias Lilienthal. Bevor er zur Spielzeit 2003/2004 das aus den Häusern Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer und dem kleinen Theater am Ufer gebildete Kombinat Hebbel am Ufer, kurz HAU 1-3, übernommen hat, war er Chefdramaturg der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und 2002 Leiter des Festivals Theater der Welt im Ruhrgebiet. Der Mann mag keine "Kunstkacke". Das ist nämlich für Lilienthal das herkömmliche Theater, seine alte, so gefeierte Wirkungsstätte Volksbühne übrigens eingeschlossen. Der Mittvierziger reibt sich lieber an der "Realitätskacke" und führt seine Häuser in neue, experimentelle und nach herkömmlichen Maßstab theaterfremde Gefilde.
Diese Verjüngungskur gilt inzwischen als gelungen, auch weil Lilienthal und sein Team mit einem ungeheurem Kraftakt und mit einem Produktionsetat, der vorher nur für ein Haus reichte, dem Kombinat Programm, Profil und Dynamik verleihen. Dafür wählte sie das Fachblatt "Theater heute" zum Theater des Jahres 2004.
Gleichzeitig beleben die HAU-Bühnen die vielleicht toteste Ecke Kreuzbergs. Allein in der ersten, nur acht Monate dauernden Spielzeit gab es 335 Vorstellungen von 118 freien und internationalen Projekten und Produktionen. Zwei neu begründete Festivals - das Freie-Gruppen-Treffen "100º Berlin" und das Tanzfestival "Context" - bereichern den Berliner Kalender. "Verbrechen Sie Kunst!" rief Berlins Kultursenator Thomas Flierl dem Intendanten und seinen Schöpfergeistern zur Eröffnung der HAU-Bühnen im Oktober 2003 zu. Na denn. Niemand geringeres als Christoph Schlingensief verbrannte dazu eine Strohkuh und gab dem Unterfangen seinen Segen: "Solange ich kein eigenes Theater habe, unterstütze ich Matthias Lilienthal!"
Bevor Lilienthal also die Bühnen zur Plattform erklärte, "zum leeren Raum, der verschieden füllbar ist", hatten die Häuser bereits sehr unterschiedliche Füllungen. Das HAU 1 war als Hebbel-Theater einer der bedeutendsten Berliner Veranstaltungsorte für junge, internationale, experimentelle und innovative darstellende Kunst.

Von 1989 bis 2003 verband es sich unter der effektiven Intendanz Nele Hertlings zu einem flexiblen Netzwerk mit ähnlich profilierten Häusern, wie dem TAT in Frankfurt, Felix Meritis in Amsterdam, der Szene Salzburg und dem Kaaitheater in Brüssel. Es pflegte den regen Kontakt mit Künstlern und Gruppen aus aller Welt, darunter Robert Wilson, der Wooster Group (mit Hollywood-Star Willem Dafoe), Laurie Anderson, Steve Reich, Robert Lepage, Jan Fabre, Hans Jürgen Syberberg, Richard Foreman, Susanne Linke, Meredith Monk, Jo Fabian, Edith Clever, Ricardo Bartis, Heiner Goebbels und Peter Sellars. Davor stand das 1907/08 errichtete Theaterhaus an der Stresemannstraße jahrelang leer, bis es anlässlich von Berlins 750-Jahr-Feier 1987 renoviert und wieder eröffnet wurde.
Auch das Theater am Halleschen Ufer, jetzt HAU 2, hat eine große Geschichte. Peter Stein was here. Claus Peymann ebenso, aber nur kurz. Schauspielikonen wie Bruno Ganz, Otto Sander, Edith Clever, Jutta Lampe oder Michael König feierten hier erste Triumphe. Das Haus war Spielort der legendären Schaubühne am Halleschen Ufer. Nachdem sie 1981 in ihre neue Spielstätte nach Wilmersdorf umgezogen war, verlor die Bühne im Fünfziger-Jahre-Bau der Arbeiterwohlfahrt schnell an Bedeutung. Mit entfernt kollektivistischem Image und einem gut angestaubten Brecht-Theaterkonzept produzierte die Theatermanufaktur am Halleschen Ufer zwischen 1981 und 1993 vor allem künstlerischen Leerlauf. Als Haus der Freien Gruppen sorgte es erst unter dem künstlerischen Leiter Zebu Kluth für andere Sichtweisen. Kluth schärfte das Profil durch die programmatische Präsentation von Grenzgängern zwischen den Genres, wie den Protagonisten des "postdramatischen" Theaters aus der sogenannten Gießener Schule des Professors Andrzej Wirth. Man rückt gesellige Lifestyle-Atmosphäre interdisziplinär ins Zentrum, nutzt verschiedenstes szenisches Material zur Neu- und Weiterentwicklung von Dialogdramaturgien. Vinylscratchen gehört gleichberechtigt zur Wort-Performance. Da das Theater am Halleschen Ufer über keinen eigenen Produktionsetat verfügte, Kluth das Profil seines Hauses aber nicht durch Ästhetiken verwässern ließ, die er eigentlich ablehnt, fand schließlich mehr Tanz als Sprechtheater am Halleschen Ufer statt. Die Spielstätte avancierte zu einer der besten Adressen für zeitgenössischen Tanz in der Stadt. Nicht unschuldig daran war der Tanzdramaturg Björn Dirk Schlüter, der nach Kluths Weggang sein Nachfolger wurde. Mit dem Festival "move berlin" zum zeitgenössischen brasilianischen Tanz feierte das Haus zum Abschluss im Frühjahr 2003 einen Riesenerfolg bei Kritik und Publikum.

HAU 3 war als Theater am Ufer die Wirkungsstätte des Teatr Kreatur von Andrej Woron, dessen Theater lange zu den aufregendsten der Freien Szene gehörte, Einladungen zum Theatertreffen, umjubelte Tourneen um die halbe Welt und Fernsehfassungen der Stücke zeugen davon. Zuletzt war das Teatr Kreatur allerdings nur noch ein Schatten seiner einstigen Größe.